41forum kriminalprävention 2 2016 VERBUNDPROJEKT TARGET Mehrfachtötungen im Arbeits und Ausbildungskontext Eine Analyse aus Sicht der Forensischen Psychologie Astrid Rossegger Jérôme Endrass Juliane Gerth Der Beitrag fasst die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie des Forschungsprojekts Tat und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt TARGET zusammen in der die Universität Konstanz und der Psychia trisch Psychologische Dienst des Amtes für Justizvollzug im Kanton Zürich in der Schweiz vertreten sind In einer Zeit geprägt von Onlineme dien und sozialen Netzwerken wird nahezu unmittelbar über sich welt weit ereignende Grausamkeiten Be richt erstattet Der Zugang zu ent sprechenden Informationen ist leicht und die Berichterstattung insbeson dere bei Ereignissen die die öffentli che Sicherheit gefährden oft detail reich und zeitlich andauernd Da mag der Eindruck entstehen dass ver suchte Mehrfachtötungen Attentate und sogenannte Amok Taten über die letzten Jahrzehnte zunehmend häufiger auftreten oder gar an der Tagesordnung sind Dieser Eindruck täuscht Denn das Risiko Opfer eines Tötungsdelikts zu werden war für den Einzelnen zumindest in der sogenann ten westlichen Welt noch nie so ge ring wie heute In einer aufsehenerre genden Analyse hat der an der Harvard Universität lehrende Psychologe Ste ven Pinker aufgezeigt dass das 20 Jahrhundert die sicherste Epoche überhaupt war Pinker 2011 Die nack ten Zahlen zeigen deutlich Die Welt wird in Teilen sicherer und gewaltär mer und nicht gefährlicher und ge walttätiger Gewiss wenn ein Unternehmen ein Ausbildungsbetrieb oder eine Gesell schaft von einem schweren sich im öffentlichen Raum ereignenden At tentat betroffen ist führt dies häufig zu einer jahrelangen Auseinanderset zung mit dem Gewaltereignis Dazu gehört die juristische Aufarbeitung genauso wie die persönliche und ge sellschaftspolitische Bewältigung des sen Unter Umständen werden auch innen und außenpolitische Konse quenzen ergriffen Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Auswirkungen der Attentate vom 11 September 2001 in den USA die nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheits richtlinien an Flughäfen hatten son dern auch zu innenpolitischen Maß nahmen wie dem Patriot Act führten und zwei Kriege in Afghanistan und dem Irak nach sich zogen die wiede rum massive Verwerfungen im Nahen und Mittleren Osten zur Folge hatten Die mediale und gesellschaftspoliti sche Präsenz von Attentaten im öf fentlichen Raum und die Vehemenz mit der anschließend oft Konsequen zen gefordert werden wird durch die Realität der forensischen Psychologie und Psychiatrie kontrastiert Werden an forensische Psychologen oder Psy chiater im Nachgang von Attentaten die obligaten Fragen nach dem War um nach zu ziehenden Konsequen zen und sinnvollen präventiven Maß nahmen adressiert geben zwar einige Vertreter des Berufstands Aus kunft doch wissenschaftlich fundiert sind die wenigsten dieser Aussagen Robuste wissenschaftliche Erkennt nisse über die Persönlichkeit von At tentätern die den Attentaten zugrun de liegenden Tatdynamiken und die Relevanz von Kontextfaktoren für die Bildung des Tatentschlusses sind rar Das hängt natürlich zum einen damit zusammen dass aufgrund der gerin gen Fallzahl schwerwiegender Atten tate die Möglichkeiten limitiert sind spezifische Täter und Tatmerkmale oder gar kausale Risikofaktoren mit tels quantitativer statistischer Metho den zu identifizieren So hat beispiel weise eine Vollerhebung von allen versuchten Attentaten an Schulen in Deutschland zwischen 1999 und 2012 zur Identifikation von gesamthaft elf Fällen geführt Scholl et al in prepara tion Zum anderen ist die Ermittlung robuster wissenschaftlicher Erkennt nisse dadurch erschwert dass der Zu gang zu den Informationen die eine forensische Aufarbeitung des Falls er möglichen würden oft eingeschränkt ist vgl Giebel Rossegger Seewald Endrass 2014 Die Untersuchung der Einzelfälle wird noch weiter durch den Umstand erschwert dass ein substan zieller Anteil der Attentäter sich un mittelbar nach den Attentaten suizi diert In solchen Fällen ist eine forensisch psychologische Beurtei lung zur Analyse von Persönlichkeit und Tatdynamik doppelt erschwert Es kann weder auf forensische Gutachten zurückgegriffen werden es werden keine strafrechtlichen Verfahren ge gen verstorbene Personen geführt noch kann der Täter persönlich explo riert werden Schließlich werden im Nachgang von Attentaten gewonnene Informationen u a aus Gründen des Daten oder Persönlichkeitsschutzes häufig nur zögerlich oft zu zögerlich unvollständig oder gar nicht der Öf fentlichkeit und somit meist auch nicht der Wissenschaft zugänglich ge macht Die Folge ist dass sich die Mehrheit der wissenschaftlichen Auf arbeitungen von schweren Attentaten lediglich auf Medieninformationen ab stützen vgl Giebel Rossegger See wald Endrass 2014 und bis heute kaum fundierte wissenschaftliche Aussagen möglich sind die über be langlose Allgemeinplätze z B Ge waltstraftäter mehrheitlich jung und männlich hinausgehen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in der forensischen Psychologie Wie schwierig es ist robuste Aussa gen über Charakteristika von Gewalt straftätern kausale Risikofaktoren

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