41 forum kriminalprävention 1 2017 JUGENDKRIMINALITÄT Empirische Studien in Deutschland Die Überlegungen der Theorie der sozialen Desorganisation bzw der Theorie der kollektiven Wirksamkeit wurden auch in Deutschland zumin dest teilweise in jugendkriminologi schen Studien geprüft Zwei Studien weisen hier einen Pioniercharakter auf Die erste umfassende Untersu chung zum Zusammenhang von Stadt teileigenschaften und Jugendgewalt in Deutschland stammt von Oberwitt ler 2004 2004a der in den Jahren 1999 und 2000 in Freiburg i Br und Köln ins gesamt 6437 Jugendliche befragt hat Die Befunde dieser Studie zeigen dass delinquentes Verhalten unter ande rem Raub Einbruch durch Nachbar schaftsmerkmale erklärt werden kann schwere Jugenddelinquenz steigt mit zunehmender sozialer Benachteili gung im Stadtteil und sinkt mit wach sender sozialer Kohäsion Die zweite Studie stammt von Kunadt und Reine cke 2008 die in einer Jugendbefra gung in Duisburg 2003 zu dem Ergeb nis kommen dass das Begehen von Gewaltdelikten nicht durch Gegeben heiten des Stadtteils beeinflusst wird Im Vergleich verschiedener Stadtteil gruppen zeigt sich dass 18 3 der Achtklässler die in einem nicht desor ganisierten Stadtteil leben als Gewalt täter in Erscheinung getreten sind Nur wenig höher fällt dieser Anteil in sehr desorganisierten Stadtteilen mit 19 4 aus In einer weiteren Auswer tung dieser Daten bestätigt sich dass Jugendgewalt nicht mit der Benach teiligung des Stadtteils variiert Ku nadt 2013 Hinsichtlich der zentralen Frage ob sich Stadtteile im Ausmaß der Jugend delinquenz unterscheiden gehen die Befunde beider Studien also deutlich auseinander Das Kriminologische For schungsinstitut Niedersachsen KFN hat deshalb in den Jahren 2006 bis 2011 weitere Studien zur sozialräumlichen Bedingtheit der Jugenddelinquenz durchgeführt Rabold et al 2008 Bai er Prätor 2015 Baier et al 2009 Baier 2011 Baier Pfeiffer 2011a Deren Er gebnisse sollen im Folgenden entlang von vier Thesen vorgestellt werden These 1 Jugenddelinquenz ist von sozialräumlichen Bedingungen abhän gig Wichtiger als strukturelle Faktoren sind die von Erwachsenen geprägten kulturellen Bedingungen die im Wohnumfeld vorzufinden sind Die Ergebnisse der KFN Studien be legen zunächst dass sich der Anteil an Jugendlichen die mit delinquentem Verhalten in Erscheinung treten von Stadtteil zu Stadtteil unterscheidet Im Rahmen einer Studie in Hannover Rabold et al 2008 zeigte sich bei spielsweise dass die stadtteilspezifi sche Gewalttäterrate zwischen 0 und 32 6 variiert Ähnlich große Differen zen zwischen den Stadtteilen finden sich auch in den anderen Untersu chungen des KFN wobei die Varianz für Gewaltkriminalität jeweils größer ausfällt als für andere Deliktsbereiche An diese nach Stadtteil variierenden Täterraten schließen sich zwei Fragen an 1 Kommen sie aufgrund der diffe renziellen Zusammensetzung der Stadtteile zustande oder handelt es sich um eigenständige Effekte 2 Wenn es sich um eigenständige Effek te handelt Welche Faktoren sind dann für die Stadtteilunterschiede verant wortlich Bezüglich der ersten Frage wird zwischen Kompositions und Kontext effekt unterschieden Angenommen zwischen den Stadtteilen würde der Anteil männlicher Befragter stark vari ieren dann würde nicht überraschen wenn dies auch für die Gewalttäterra ten gilt insofern männliche Jugendli che signifikant häufiger Gewaltdelikte begehen als weibliche Jugendliche Das Beispiel Hannovers zeigt dass die differenzielle Zusammensetzung tat sächlich berücksichtigt werden muss Der niedrigste Anteil männlicher Be fragter beträgt hier in einem Stadtteil 33 8 der höchste 72 4 Auch der Migrantenanteil variiert stark nach Stadtteil in Hannover ebenso wie in den anderen Städten Die Auswertun gen belegen zugleich dass beim Gewaltverhalten die Stadtteilunter schiede zurückgehen wenn deren Ge schlechter und Migrantenanteil be rücksichtigt wird Rabold et al 2008 S 176 Bei den berichteten Stadtteil unterschieden handelt es sich aber nicht allein um einen Kompositionsef fekt d h Stadtteilunterschiede blei ben auch nach Berücksichtigung der Zusammensetzung der Befragten be stehen Insofern ist die Frage gerechtfer tigt welche Stadtteilfaktoren Einfluss auf das delinquente Verhalten haben Die an die vorgestellten Theorien an gelehnten Analysen haben zu folgen den Ergebnissen geführt Die struktu rellen Eigenschaften stehen nicht mit der Jugendgewalt in Beziehung Es ist insofern nicht der Fall dass in Stadt teilen mit höherer Arbeitslosenquote höherem Migrantenanteil oder höhe rer Bewohnerfluktuation mehr ju gendliche Gewalttäter zu finden sind Strukturelle Desorganisation ist kein direkter Einflussfaktor der Jugendde linquenz Für die kulturellen Eigen schaften finden sich hingegen signifi kanteBeziehungenmitdemVerhalten Entgegen der Annahmen von Samp son et al 1997 ist es jedoch nicht der soziale Zusammenhalt und die Inter ventionsbereitschaft der Nachbar schaft die delinquentes Verhalten un wahrscheinlicher machen Stattdessen zeigt sich für zwei an dere Faktoren ein Einfluss Mit stei gendem Anteil positiver Verhaltens vorbilder sichtbar gemacht über den Anteil höher gebildeter Erwachsener und einem sinkenden Konfliktniveau im Stadtteil reduziert sich die Jugend gewalt Beide Befunde deuten darauf hin dass für Jugendliche nicht nur das Verhalten von Erwachsenen im unmit telbaren sondern auch im weiteren sozialen Umfeld bedeutsam ist und sie sich an deren Verhalten orientieren Insofern erfahren lerntheoretische Ansätze im deutschsprachigen Raum eher empirische Bestätigung als kon trolltheoretische Erklärungen Für kommunale Präventionsmaßnahmen verdeutlicht dieser Befund dass zur Verringerung von Jugendkriminalität auch Erwachsene vor Ort eingebun denwerdenmüssen Zugleich belegen die Befunde dass die strukturellen Vo raussetzungen eines Stadtteils in indi rekter Form relevant für das Niveau der Jugenddelinquenz sind Sie prä gen die kulturellen Bedingungen und die Art des Zusammenlebens die sich wiederum auf das Verhalten der Ju gendlichen auswirken Stadtteile mit höherem Arbeitslosenanteil weisen beispielsweise ein höheres Konfliktni veau auf ein höherer Ausländeranteil geht zugleich mit einem niedrigeren Niveau an positiven Verhaltensvorbil dern einher Sozialräumliche Segrega tion kann damit indirekt auch Einfluss auf die Jugenddelinquenz nehmen Von primärer Bedeutung ist sie aber nicht These 2 Delinquentes Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist vor allem durch Sozialisationsfaktoren im unmit telbaren sozialen Nahraum bedingt Peers Familie Schule Verglichen mit anderen Einflussfak toren für delinquentes Verhalten vgl für eine Übersicht z B Rabold Baier

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