forum kriminalprävention - 02/2011 April / Mai / Juni

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

"Mordswut" lautet der Titel des "SPIEGEL" vom 2. Mai 2011 und zeigt das Videobild des brutalen Gewaltexzesses am Karfreitag in der Berliner U-Bahn-Station Friedrichstraße. Ein schweres Schädel- Hirn-Trauma und Gedächtnislücken sind die gesundheitsschädigenden Folgen für das Opfer. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 4. Mai geht weiter ins Detail: "Eine taube Lippe, Sprachstörungen, eine zerrissene Nasenscheidewand und zertrümmerte Nase, hämmernde Kopfschmerzen, Platzwunden an Schläfen und unter dem Auge, Gleichgewichtsstörungen, große Erschöpfung." Der Täter gibt an, er habe in angetrunkenem und aggressivem Zustand aus Streitlust heraus gehandelt und sein Opfer willkürlich gewählt. DIE ZEIT vom 28. April lässt zur Frage der Tätermotivation den Anwalt des Opfers zu Wort kommen: "Vier gezielte Tritte auf den Hinterkopf, ein anschließender Freudentanz, da ist die pure Vernichtungslust zu sehen."

Das allgemeine Bedürfnis nach Gerechtigkeit sollte zunächst die Hilfe für das Opfer in den Blick nehmen, die allerdings ausgebliebensei,wie die SÜDDEUTSCHE berichtet: "… wirklich niemand hilft uns. Niemand von der Stadt Berlin hat sich bei uns gemeldet, niemand von der BVG", so der Vater des Opfers. Gerechtigkeitsfragen betreffen auch den Umgang mit dem Täter, insbesondere die strafrechtliche Würdigung seines Verhaltens. Medienberichte - insbesondere der Boulevardpresse - skandalisieren das Ereignis. Kriminalpolitische Diskussionen verallgemeinern den Einzelfall. Diagnosen zwischen Dämonisierungund Banalisierung werden gestellt, "es ist eine Debatte der Extreme":

  1. Verfolgung oder Verständnis […]?
  2. "Gewalttäter als Bestien […], Exempeln des schlechthin Bösen, […] Monster" oder "vor allem Opfer ihrer Umgebung, ihrer Biografie, ihrer Aussichtslosigkeit" (SPIEGEL 2. 5. 2011)?

Unbegreifliches wird bleiben, wenn man die Ursachen analysiert. Der britische Publizist Terry Eagleton spricht vom "Bösen", das in Menschen entstehe, die unfähig seien, ein sinnhaftes Leben zu führen (Interview in Die ZEIT vom 28. 4. 2011) und erklärt "das Böse" (so auch der Titel seines gerade ins Deutsche übersetzten Buches) zur anthropologischen Konstanten. Der Journalist Ulrich Greiner formulierte bereits 2007 in einem ZEIT-Feuilleton: "Am Tor des Unheils - Irrationale Mordtaten Jugendlicher erschüttern unser Weltbild. Ratlos fragen wir nach Gründen. Aber schon die Mythen und die Bibel zeigen, dass das Böse zum Menschen gehört" (DIE ZEIT vom 1. 2. 2007). In der Konsequenz müsse zivilisatorischer Fortschritt "immer von Neuem erobert werden." Anders gesagt: Jede Generation ist demnach gefordert, Gewaltneigungen und -entwicklungen einzuhegen, strukturell, individuell und situativ.

Gewaltverhalten ist nicht schicksalhaft vorherbestimmt. Der Weg dorthin ist weder zwangsläufig noch unveränderlich. Einerseits führt die Kumulation von problematischen Lebensbedingungen nicht automatisch zu Gewaltverhalten und andererseits gibt es "Täter aus gutem Haus", aus der "Mitte der Gesellschaft" (Die ZEIT, 28. 4. 2011) mit vordergründig günstigen / stabilen Lebensverhältnissen. Der Psychiater Michael Günter stellt zudem fest, dass Gewalt "entgegen dem durch die Medien vermittelten Bild viel häufiger durch Gefühle, Wut, Demütigung, Rachewünsche, Scham und Schuldgefühle ausgelöst" werde, "als dass sie ausschließlich kaltblütig und skrupellos für die eigenen Zwecke eingesetzt würde" (Günter, Michael: Gewalt entsteht im Kopf, 2011, S. 34); Gefühle, deren Entstehung und destruktive Verarbeitung nicht immer augenfällig und keineswegs milieugebunden sowie durch andere Menschen beeinflusst und beeinflussbar sind.

Die Ansätze, Risikofaktoren abzubauen und Schutzfaktoren zu stärken, sind einzubetten in ein bio-psycho-soziales Entwicklungsmodell, das in den unterschiedlichen Lebensphasen (des Heranwachsens) und Beziehungssystemen (etwa Familie, Kita, Schule, Peers, Freizeitangebote) multifaktorelle Risiken und Stabilisierungsmechanismen verknüpft, Probleme bei Übergängen und Verstärkerkreisläufe identifiziert sowie Präventionserfordernisse und entsprechende Anknüpfungsmöglichkeiten ableiten kann.

Das Autorenteam vom SPIEGEL fordert zu Recht eine "Strategie" gegen - sich im Zeitablauf verfestigende - jugendspezifische Gewalt; eine Strategie, die über die Rufe nach Straferhöhung, Wegsperren und Bootcamps hinausgeht. Neben der sozialpolitischen Verpflichtung, gute Perspektiven der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Bildung und Beruf, sozialer Anerkennung und materieller Sicherung zu eröffnen, wird es insbesondere darauf ankommen, individuelle seelische und soziale Kompetenzen zum fairen Umgang mit anderen und zur Stabilisierung des eigenen Selbstwertes zu stärken. Der Weg zu einem besseren sozialen Klima - ohne die Demütigungen eines rücksichtslosen Wettbewerbs - ist zu beschreiten, unterstützt durch geeignete Programme und Maßnahmen, die sich nicht nur an spezielle Risikogruppen, sondern universell an alle Kinder- und Jugendlichen sowie an die sie erziehenden Erwachsenen richten. Die frühzeitige Unterstützung von Eltern, die Hilfe bei der Erziehung benötigen, sollte eine hohe Priorität bekommen. Die für die Verwirklichung notwendigen personellen, fachlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sind zu verbessern, ggf. zu Lasten anderer Aufgaben. "Mutmacher" sind gefragt, die durch ihr Vertrauen, ihre Wertschätzung, Solidarität und Dankbarkeit den Kindern und Jugendlichen gesundes eigenes Wachstummit Entfaltung im Sinne einer Erlaubnis, die Probleme selbst zu lösen und dabei auch Fehler machen zu dürfen. Nur die positive Erfahrung kann persönliche Haltungen, Einstellungen, Denken und Handeln im guten Sinne entwickeln und prägen.
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Ihr Wolfgang Kahl


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