forum kriminalprävention - 01/2011 Jan / Feb / März

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

insgesamt gilt nach wie vor, dass die Mehrzahl junger Menschen nur kurzzeitig und nicht in schwerwiegender Form gegen Normen verstößt. Eine Zunahme gravierender Formen der Delinquenz junger Menschen in Gestalt von erhöhten Zahlen von Gewalt-, Mehrfach- und Intensivtätern lässt sich in Deutschland im Zeitraum der letzten zehn Jahre nicht nachweisen.

Berichte von spektakulären Einzelfällen schwerer jugendlicher Gewalt (beeindruckend differenziert im ZEITMAGAZIN, 27. 1. 2011: "Tod am Jungfernstieg" von Sabine Rückert) und ihre Skandalisierungen in der Boulevardpresse sowie auch die Polizeiliche Kriminalstatistik suggerieren jedoch eine ständige Zunahme der Jugendgewalt in Deutschland.

Die Zahl der polizeilich registrierten jugendlichen Gewalttäter ist seit 1998 (relativ) um rund 26 Prozent gestiegen, bei den nicht eingerechneten leichten Körperverletzungen sind es sogar 55 Prozent. Die Hellfelddaten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zu sogenannten "Raufunfällen" an Schulen zeigen hingegen, dass die von den Schulleitern gemeldeten Vorfälle zwischen 1998 und 2008 um rund 22 Prozent zurückgegangen sind, bei "Raufunfällen" mit Frakturen um 33,3 Prozent (DGUV-Statistik, 2009).

Die Schwierigkeit, ein getreues Bild der Gewaltkriminalität zu zeigen, ist offensichtlich. Die Erforschung des sogenannten Dunkelfeldes kann einige Aufhellung bewirken.

Eine deutschlandweit repräsentative Dunkelfeldbefragung wurde erstmalig durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) in Jahren 2007/2008 durchgeführt (Baier & Pfeiffer et al., 2009). Rund 45 000 Schüler/-innen der 9. Klassen aller Schulformen haben sich beteiligt. Deutlich wird, dass ein erhebliches Dunkelfeld für die Bereiche der Gewaltdelikte besteht: 2008 war das Dunkelfeld gewalttätiger Jugendlicher bei vorsätzlichen leichten Körperverletzungen mehr als zehn Mal höher als die kriminalstatistische Tatverdächtigenbelastung, bei den schwereren Gewalttaten war das Verhältnis von Hellfeld- und Dunkelfeld etwa 1 : 5,5. Die Tatverdächtigenbelastung ist sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld bei Jungen etwa 4,5-fach höher als bei Mädchen. Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS, Schlack & Hölling 2007) und Dunkelfeldstudien zeigen, dass niedriger sozioökonomischer Status und geringes Bildungsniveau in einem Zusammenhang zur Beteiligung an Gewalthandlungen stehen.

Im Rahmen der Verlaufsstudie "Kriminalität in der modernen Stadt" werden in Duisburg seit 2002 jährliche Befragungen derselben Personen (so genannte Panelstudie) durchgeführt, um Verlauf und Entstehungsbedingungen von Delinquenz in unterschiedlichen Lebensphasen von Jugendlichen zu analysieren (Boers & Reinecke et al., 2010). Dort wird eine problematische Gruppe jugendlicher Intensivtäter von ca. 6 Prozent der der Befragten identifiziert, die über drei Viertel aller Gewaltdelikte berichtet haben.

Die Frage, ob der kriminalstatistische Anstieg der Gewaltkriminalität von 1998 bis 2008 um etwa 26 Prozent auch tatsächlich stattgefunden hat, kann nur durch eine vergleichende Betrachtung der Dunkelfeldentwicklung geklärt werden.

Unter Berücksichtigung der methodischen Einschränkungen bei den Datenvergleichen zum Dunkelfeld lässt sich die Gewaltanstiegshypothese der Kriminalstatistik nicht bestätigen, vielmehr ist von einem Rückgang auszugehen.

Auch für die Mehrfach-Gewalttäteranteile zeigt sich im Durchschnitt ein Rückgang um etwa ein Viertel. Die gegensätzlichen Befunde lassen sich im Wesentlichen durch eine höhere Sensibilität für Gewalt und ein damit einhergehendes höheres Anzeigeverhalten und steigendes Hellfeld erklären.

Nichtsdestotrotz gibt es zu viele Gewaltvorkommnisse und es muss berücksichtigt werden, dass gerade früh einsetzende und kontinuierliche Gewalt zu einer langjährigen und fortdauernden Gewalttätigkeit führen kann, und es eine kleine Gruppe Betroffener gibt, die als Mehrfachtäter - insbesondere bei Gewalttaten - auffällig ist. Die ausführliche Darstellung der Analyse ist auf der DFK-Website unter Publikationen zu finden. Gesellschaften, die von Umbrüchen, schwerwiegenden Schieflagen, Marginalisierungen, Konflikten und Krisen gekennzeichnet sind, haben ein deutlich höheres (Jugend-)Gewaltniveau. Daher bietet die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit einen Leitfaden "Systemische Gewaltprävention" an, der ganzheitliche, auf Kooperation angelegte Präventionsansätze unterstützen soll. Die methodischen Impulse sollten auch für die deutsche und europäische Präventionspraxis von hohem Interesse sein. Probleme und Lösungen einer koordinierten / systemischen Implementierung zeigen dann Stefanie Otte und Manfred Bornewasser (Uni Greifswald) in ihrer Darstellung der Ergebnisse der (vom DFK finanzierten) Prozessevaluation kommunaler Gewaltprävention in einem brandenburgischen Landkreis. In Brandenburg läuft auch das Programm "Wir für uns - Eine Schule mit Identität ist eine Schule mit Zukunft", von dem Dr. Stefan Schanzenbächer berichtet. Die Verknüpfungen von Prävention und Erziehung werden in Paderborn / Modellregion für Erziehung im Projekt FAMOS familien optimal stärken hergestellt und von Angelika Enzian beschrieben. Vom DFK finanziell gefördert, untersucht die Uni Bielefeld die "famosen" Ergebnisse. Die Buchtipps von und zu Manfred Günther geben Hilfestellungen für (zu) Erziehende. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen sowie hier die Fachärzte Kristina Ritter und Thomas Stompe geben Einblicke in die neurobiologischen Grundlagen der Gewalttätigkeit von Kindern und Jugendlichen und ordnen diese in die komplexen Interaktionen unterschiedlicher Bedingungsfaktoren von Gewalt ein. Integrativ setzt auch die Schemapädagogik bei "schwierigen" Kindern an. Marcus Damm beschreibt in seinem Buch - auf das hingewiesen wird - innovative Möglichkeiten und Methoden für psychosoziale und sozialpädagogische Arbeitsfelder. "Das geht zu weit" war der Titel des 2. Österreichischen Präventionskongresses in Graz, der sich mit den Grenzüberschreitungen von und gegenüber Kindern und Jugendlichen befasste. Ireen Winter berichtet - ebenso zum neuen Bündnis gegen Gewalt in Österreich.

Von Bündnissen, vielmehr Netzwerken der Präventionsverantwortlichen deutscher und europäischer Städte erfahren Sie von Claudia Heinzelmann und mir in den Beiträgen zum Deutsch-Europäischen Forum für urbane Sicherheit und zum Städtenetzwerk Kriminalprävention.

Die Städtepartner Offenbach (Frank Weber) und Frankfurt (Frank Goldberg) präsentieren konkrete kommunale Projekte: Boxclub Nordend und Präventionskonzept "Silvester". Weitere Netzwerke werden von Stephan Höltker und Rainer Schwarz zu den Themen Einbruch- und Brandschutz vorgestellt. Das Europäische Netzwerk für Kriminalprävention (EUCPN) ist schließlich zweimal Thema: Der übliche Bericht zur jährlichen EUCPN-Best-Practice-Konferenz und zum Europäischen Präventionspreis sowie diesmal von Annegret Korff ein Überblick zu Neuorganisation und aktuellen Themen des Netzwerkes. Last but not least freue ich mich über die Ehrung von Heidrun Mayer für ihr Engagement für Kinder mit dem Papilio®-Programm. Papilio® wird nicht ohne Grund zuletzt erwähnt, denn es leitet zu der Erkenntnis über, dass immer mehr dafür spricht - neben der klassischen Kriminalprävention - einem entwicklungsorientierten Präventionsverständnis (früh beginnende und kontinuierliche Förderung) zu folgen und es umfassender als bisher in der erzieherischen Arbeit zu verwirklichen.

Von den zukünftig gemeinsamen Anstrengungen zur entwicklungsorientierten Prävention von Deutscher Bahn AG, Freier Universität Berlin und DFK kann (endlich) im nächsten Heft berichtet werden, dann sind die ersten Weichen gestellt.

Ich hoffe, dass Sie nicht nur bemerkt, sondern auch begrüßt haben, dass sich die Titelseite "geliftet" mit zum Teil neuem Layout präsentiert. Bei der Lektüre des Heftes wünsche ich Ihnen genügend ZEIT und neue EINSICHTEN. Ich freue mich darauf, viele von Ihnen Ende Mai beim 16. Deutschen Präventionstag in Oldenburg wiederzusehen. Bis dahin alles Gute.

Ihr Wolfgang Kahl


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