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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

Spuren der Gewalt
Ein Ausnahmefall in einem friedlichen Land. Ein wahrscheinlich einzelner Täter, der hasserfüllt, ohne Mitgefühl und -leid gehandelt hat. Was geht in einem Menschen vor, der 90 Minuten lang tötet? Für den Hass gab es Steinbrüche unmenschlicher Ideologien, die das Verbrechen begründen sollen. Der Mangel an Empathie hängt mit den fehlenden Bindungen zu anderen Menschen zusammen. Warum konnte er keine Beziehungen eingehen? Wie ist es dazu gekommen?

Die Schreckenstaten vom 22. Juli in Oslo sind schockierend. Die Folgen haben Ursachen. Wiederum stellen sich der Gesellschaft, den Medien, den politisch Verantwortlichen und den Sicherheitsbehörden - auch neue - Fragen nach dem Warum. Die Antworten müssen Folgen haben. Welche? "Der Schrei", das bekannteste Motiv des norwegischen Malers Edvard Munch drückt mutlose Verzweiflung aus.
Die Norweger antworten jetzt mutig, indem sie ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt mitmenschlich demonstrieren. Achtsamkeit, füreinander Sorge tragen, niemanden im Abseits stehen lassen…und Angebote, die soziale Fähigkeiten bereits im Kindesalter stärken sowie im Jugendalter stabilisieren: Selbst in der Gruppe respektierende Resonanz finden und den anderen in der Gemeinschaft zugewandt sein. Der Weg, eine Kultur der gegenseitigen Achtung und Fairness weiter zu entwickeln, muss fortgesetzt werden.

Und nun Gewaltausbrüche in London, Manchester, Liverpool und Birmingham - Fragen zur Dynamik der Gewalt, wie man sie unterbrechen kann, zu den Ursachen. Zudem die Botschaft, die Probleme mit der "vollen Härte des Gesetzes" lösen zuwollen.

Die Jugendgewalt in Großbritannien zeigt eindringlich, dass Gewalt und Kriminalität in diesem Ausmaß und in dieser Ausprägung Folgen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen (Makroebene) sind, die marginalisierte Jugendliche perspektivlos machen (Mikroebene) und nach einem entzündenden Anlass (Aktualgenese) zu eruptiver kollektiver Gewalt und Gesetzeslosigkeit (Dynamik) führen. Ihrer Sichtweise entsprechend glauben die in Banden lebenden Kinder und Jugendlichen, nichts mehr gewinnen und verlieren zu können…

Gesellschaftliche Integration und Teilhabechancen für alle Gruppen sindwichtige auch kriminalpolitische Zielsetzungen und Teil einer präventiven Strategie, die die Mehrzahl der politischen Handlungsfelder einzubeziehen hat - bleibt die Botschaft an die politisch Handelnden.

"Mythos Prävention"?
Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) warnt hingegen davor, fast jede soziale Maßnahme "präventiv" zu begründen (vgl. DJI Impulse "Mythos Prävention - Chancen und Grenzen präventiver Konzepte", Bulletin 2/2011), spricht von einem "Hype, den Prävention im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat." Ulrich Bröckling wird zitiert, der Prävention als "übergreifenden Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften" (2008) charakterisiert.

Unbestritten ist, präventives Handeln auf gesellschaftliche Probleme zu beziehen, die es zu vermeiden gilt. Häufig manifestieren sich persönliche und strukturelle Krisen als Folge kumulierender Risiken und Problemlagen. Insofern sind präventive Konzepte strategisch auf die Veränderung mehrerer Einflussfaktoren zu richten. Die strukturelle Verbesserung von Lebensverhältnissen und soziale Unterstützungen haben mittelbare, zum Teil auch unmittelbare präventive Effekte. Daher sollte die Achtsamkeit nicht zu sehr auf die "Bedrohung des Präventionsbegriffes" oder die Gefahr seiner "Entgrenzung" gelenkt werden, sondern vielmehr auf die Verbesserung des Austausches und der Kooperation zwischenden Akteuren der unterschiedlichen Handlungsfelder der präventiven Arbeit sowie auf die Verstetigung präventiver Programme etwa in den institutionellen Regelalltag von Schulen. Systemisches Denken ist gefragt, um die Tendenz zu überwinden, dass die Akteure in unterschiedlichen Arbeitsfeldern (etwa Polizei, Schule, Jugend-(sozial-)arbeit, Justiz, Vereine) in jeweiliger Handlungslogik verharren. Es gilt, präventive Arbeit nicht in erster Linie auf Abwehr und Kontrolle, sondern auf Stärkung und Förderung zu konzentrieren. Standardisierte Programme leisten einen wichtigen Beitrag, um Verhaltensänderungen zu erreichen. Gleichzeitig können sie auch als Instrumente der Veränderung von Rahmenbedingungen, etwa zur Organisationsentwicklung verstanden werden. Weiterhin sind eine Vielzahl spezifischer Hilfsmaßnahmen bei erkannten Risikolagen und problematischen Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen notwendig. Prävention sollte daher nicht als "Mythos" gedeutet oder als "Zauberformel" entlarvt werden. Im Gegenteil ist eine handlungsfeldübergreifende Strategie einzufordern, die mittelbare Nutzen unterschiedlicher Maßnahmen für die Begrenzung von Risiken in Bezug auf Kriminalität und Gewalt sowie auf andere Fehlentwicklungen beschreibt und unmittelbar auf diese Ziele gerichtet ist. Prävention ist kein Allheilmittel, aber das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft: Prävention als Prinzip, Chance und Herausforderung in unterschiedlichen Handlungsfeldern, deren Arbeit es miteinander zu verknüpfen gilt, auf dem Weg zu besserem gesellschaftlichen Zusammenhalt (als präventive Maxime). Einer Verengung wäre zu widersprechen.

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Die Zukunft liegt darin, dass man sie vorbereitet. Inwieweit wir ihre Unsicherheiten wirklich in den Griff bekommen, wird eine offene Frage und Prävention eine kontinuierliche Daueraufgabe bleiben.

Ihr Wolfgang Kahl


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